Ich bin Armenierin und komme aus Armenien. Vor vier Jahren
fing ich an Deutsch zu lernen, und las eines Tages den Roman "Das Märchen
vom letzten Gedanken" des deutschen Schriftstellers Edgar Hilsenrath über
den großen armenischen Völkermord 1915. Der Roman hatte mich zutiefst
erschüttert. Ich hatte einen Autor entdeckt, der in seinem Meisterwerk
dermaßen gezaubert hatte, dass ich die armenische Sprache hörte
und armenische Gesichter sah. Alles war armenisch: armenisches Denken, armenische
Liebe, armenisches Vermissen, armenische Trauer, aber am meisten armenischer
Stolz. Ich mochte nicht glauben, dass der Autor kein Armenier war. Es entstand
in mir der Eindruck, dass er lange Jahre in Armenien gelebt haben müsste
oder zumindest enge Kontakte zu Armeniern haben müsste. Ich fing an,
Informationen über Hilsenrath in den Medien zu suchen. Später
nahm ich mit ihm selbst Kontakt auf, um mehr über die Entstehungsgeschichte
dieses Buches zu erfahren.
"Das Märchen vom letzten Gedanken" erschien 1989. Im selben Jahr
erhielt der Autor für diesen Roman den Alfred-Döblin-Preis. Seither
ist es ins Englische, Italienische, Holländische, Französische,
Griechische, Armenische, Polnische, Litauische, Türkische und Russische
übersetzt worden - alles in allem in zehn Sprachen. Dies beweist die
Bedeutung des Romans.
Zwanzig Jahre lang hat Edgar Hilsenrath literarische und dokumentarische
Quellen studiert, um seinen Roman zu schreiben, wofür er dann nur ein
Jahr brauchte. Edgar Hilsenrath hat uns nicht nur ein "Märchen" erzählt,
nein, er hat sich seelisch in die Hauptfigur des Romans verwandelt
und über sich selbst geschrieben.
Alexander von Bormann hat in seinem Artikel "Dokumentarische Phantastik"
in der Neuen Zürcher Zeitung im Jahr 1989 Edgar Hilsenraths Roman mit
Franz Werfels "Die vierzig Tage des Musa Dagh" (1933) verglichen und geschrieben:
"Doch finde ich Hilsenraths Roman dem Werfels bedeutsam überlegen:
er ist historischer und poetischer zugleich". Und als Nachfolger hat Edgar
Hilsenrath Werfels Arbeit weiterentwickelt und verbessert. Es ist der bekannteste
und der beste deutsche Roman über den ersten und geplanten Völkermord
des 20. Jahrhunderts seit Franz Werfels "Die vierzig Tage des Musa Dagh".
Hilsenraths Roman ist in Armenien zum Klassiker avanciert.
Die deutsche Gesellschaft hat dank Edgar Hilsenraths Buch wieder von
Armenien und vom armenischen Genozid gehört. Alexander Bowin, ein bekannter
russischer Journalist, Politologe und ehemaliger Botschafter
in Israel, hat in seinem eindrucksvollen Vorwort für die russische Übersetzung
bemerkt: "Das Buch wurde mit Sicherheit nicht für Armenier geschrieben
... Sie werden eine ungewöhnliche, schwankende, gleichsam aus dünner
Spitze geflochtene Welt sehen, die durch ein Prisma von Katastrophen und
tragischen Wendepunkten gezeigt wird ... Hilsenrath verbindet kunstvoll (und
elegant) verschiedene Sinnebenen, führt den Leser durch verschiedene
Systeme von Koordinaten. Wir lernen den Westen Armeniens kennen, seine Landschaften,
sein Leben, seine Bräuche, den Alltag des armenischen Volkes. Wir fliegen
in metaphorische Höhen des Todes und der Unsterblichkeit, kommen zu
einem universalen, allgemein menschlichen Wert".
Merkwürdigerweise wurde "Das Märchen vom letzten Gedanken"
in Deutschland wenig beachtet. Lili Ter-Minasian übersetzte 1993 bis
1996 den Roman ins Armenische. Seither wurde er in Armenien zum Nationalepos.
Als ich erfahren hatte, dass Edgar Hilsenrath noch nie im heutigen Armenien
war, setzte ich mir zum Ziel, für ihn eine Reise dorthin zu organisieren.
Anfang Oktober 2001 erhielt Edgar Hilsenrath zusammen mit seiner Frau Marianne
Boehme eine Einladung für zwei Wochen nach Armenien. Sie waren vom
Außenministerium der Republik Armenien eingeladen worden. Die Einladung
wurde mit großer Freude angenommen. Und mir wurde die Ehre zuteil,
beide auf dieser Reise zu begleiten. Die Botschaft der Republik Armenien in
Berlin kümmerte sich um die Organisation und Finanzierung der Reise für
Edgar Hilsenrath und seine Frau.
Am Flughafen von Jerewan empfing man die beiden mit Blumen. Unter denen,
die sie willkommen hießen, war auch der Verfasser der russischen Übersetzung
des Romans, Alexander Aslanyan, der eigens für ein Treffen mit dem
Schriftsteller aus Moskau angereist war.
Edgar Hilsenrath wurde in Armenien schon lange
erwartet. In freundschaftlicher Atmosphäre fand eine Zusammenkunft
mit dem Außenminister der Republik Armenien, Wartan Oskanyan, statt.
Es gab eine Pressekonferenz im Haus der Journalisten. Die armenische Presse
sowie das Fernsehen berichteten ausführlich über die Anwesenheit
des Ehrengastes. Es erschienen zahlreiche Artikel über Edgar Hilsenrath,
der zudem in einigen Fernsehübertragungen zu Gast war. Der Schriftsteller
aus Deutschland wurde an der Staatlichen Universität von Jerewan
mit stürmischem Applaus von Seiten der Studenten und Professoren empfangen.
Edgar Hilsenrath wurde ebenso herzlich erwartet bei dem Präsidenten
der Akademie der Wissenschaften, Fadei Sarkisyan. Als Zeichen der besonderen
Ehrung wurde Edgar Hilsenrath vom Katholikos, dem religiösen Oberhaupt
der armenischen Kirche mit Sitz in Etschmiadsin, eingeladen. Edgar Hilsenrath
wurde Ehrenmitglied im Schriftstellerverband der Republik Armenien. Dies
geschah bei einem Treffen im Hause der Schriftsteller.
Seit einigen Jahren bietet das
Theater im Polygon
aus der Stadt Fellbach dem deutschen Publikum eine auf dem Roman „Das
Märchen vom letzten Gedanken“ beruhende visuelle Rezitation. Zeitlich
parallel zu dem Besuch von Hilsenrath lud das Kulturministerium der Republik
Armenien das Theater zu einem Gastspiel ein. In der Hauptstadt Jerewan
fanden zwei ausverkaufte Aufführungen statt. Die jungen deutschen
Schauspieler spielten mit Begeisterung, und aufgrund ihrer hohen Qualität
wurde ihr Spiel begeistert vom kritischen armenischen Publikum aufgenommen
und gewürdigt. Es ist zu betonen, daß die Aufführung nicht
übersetzt wurde, trotzdem aber inhaltlich gut verständlich war.
Das Kulturministerium der Republik Armenien zeichnete die Mitglieder des
„Theater im Polygon“ mit Ehrenurkunden aus.
Im Gegensatz zu diesen geplanten Begegnungen ahnte niemand voraus, dass
das Theater Boheme aus der Stadt Wanadzor sich seit einigen Monaten für
das Stadtfest mit einer auf „Das Märchen vom letzten Gedanken“ basierenden
Vorstellung vorbereitet hatte. Der Regisseur und die Darsteller wussten
nichts von der Reise Hilsenraths nach Armenien. Aus den Fernsehnachrichten
hatten sie schließlich von seiner Ankunft erfahren und Edgar Hilsenrath
und das „Theater im Polygon“ zu ihrer Erstaufführung eingeladen. Hilsenrath
nahm die Einladung dankbar an. Nach einer großartigen Darstellung,
die von starkem Beifall begleitet wurde, bat man den Schriftsteller auf die
Bühne, wo die Schauspieler als Zeichen ihrer Verehrung Berge von Blumen
zu seinen Füßen niederlegten. Abends wurden diese unvergeßlichen
Momentaufnahmen im Fernsehprogramm von Wanadzor ausgestrahlt. Eine solch
warmherzige Begegnung bringt sehr deutlich die ehrlich empfundene Freude und
Dankbarkeit der Menschen zum Ausdruck und bleibt lange in Erinnerung. Hilsenrath
war besonders gerührt von der Herzlichkeit der Menschen in Armenien,
ihrer Offenheit und Gastfreundschaft.
Zwei Theater - in Deutschland und in Armenien – versuchten, dieses psychologisch
gefärbte Werk auf die Bühne zu stellen, und sie haben es geschafft.
Aber dieser Roman ist bestimmt für einen Breitwandfilm. Sicher werden
wir bald erfahren, dass jemand angefangen hat, an der Verfilmung zu arbeiten.
Mit seinem Roman wollte Edgar Hilsenrath das Schweigen über das
Vergessene brechen. Solche Bücher sind es, die Hoffnung und Gerechtigkeit
bringen werden. Seine Stimme muss auf der ganzen Welt gehört werden.
Der Roman ist in London auf Englisch erschienen, aber für den amerikanischen
Leser unbekannt geblieben. Eine Herausgabe dieses Buches in den USA wäre
daher sehr wichtig. Edgar Hilsenrath, der Autor von acht weltweit bekannten
Romanen, ist vieler Auszeichnungen würdig. Er müsste auch für
den Nobelpreis für Literatur nominiert werden, Armenien wird ihn hierfür
vorschlagen.